2023 — Rückblick und Hoffnung

Sebastian Damm
14 min readJan 15, 2024

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Das Jahr des Populismus aus der Mitte

Schon wieder ist ein Jahr um. Anfang 2023 hatte ich meine politischen Wünsche an das Jahr geäußert. Und ich könnte wohl das gleiche wieder schreiben, nur dass es noch schlimmer geworden ist. Und der ganze Unmut muss wenigstens mal raus, egal ob das wer liest oder nicht.

Wenn ich mich an das letzte Jahr zurück erinnere, dann eigentlich nur an Populismus, wohin das Auge reicht. Und das leider zu großen Teilen nicht von der AfD, sondern aus den Unionsparteien und der FDP, die ja eigentlich konstruktive und gestaltende Parteien sein wollen. Gestaltet haben sie aber nur eins: Den Aufstieg der Rechtsextremen.

Kapitel 1: Atom-Populismus

Es gab kaum ein Interview 2023, in dem Markus Söder, Markus Blume, Jens Spahn oder andere nicht die “ideologische Geiselhaft der Grünen” oder den “ideologischen grünen Ausstieg aus der Kernkraft” bemängelten. Und dabei komplett ihre Rolle übersahen. Deshalb nochmal ein kurzer Rückblick, wie es zum aktuellen Fahrplan des deutschen Atomausstieges kam. 2011, nach dem Unglück in Fukushima, wurde im großen parteiübergreifenden Konsens der Ausstieg aus der Stromerzeugung per Kernenergie beschlossen. Damals regierende Parteien: CxU und FDP. Damals drohte ein gewisser Markus Söder mit Rücktritt, sollten nach 2022 noch AKWs laufen. Und in der Folge wurden direkt 2011 die ersten 8 Reaktoren abgeschaltet, im Laufe der folgenden Jahre weitere 6, wohlgemerkt alles unter der Führung der Unionsparteien. Noch 2020 warb die CSU im Wahlkampf mit folgendem Share-Pic in sozialen Netzen.

Screenshot Twitter-Post der CSU, der sagt “Deutschland geht weltweit voran! Als einziges Industrieland steigen wir aus Kohle und Kernenergie aus!”

Und 2021, 10 Jahre nach dem Reaktorunglück in Fukushima, sagte Markus Söder folgenden bemerkenswerten Satz: “Fukushima verändert alles. [..] Auch wenn alles sicher scheint, gibt es den nahezu unwahrscheinlichen Fall, die winzige Möglichkeit, dass etwas passiert und die Folgen sind dann einfach in einer Form dramatisch, die nicht mehr zu akzeptieren gewesen sind, dieses Risiko weiter zu tragen.” (Quelle: damals noch Twitter)

Und dann gingen nun im April des Jahres die letzten drei AKWs vom Netz. Die einzigen nicht in einer unionsgeführten Regierung, aber aufgrund eines von den Unionsparteien beschlossenen Gesetzes. Und das sogar erst, nachdem die Ampel die Laufzeit nochmal um drei Monate verlängert hatte. Wo ist jetzt die “ideologische Geiselhaft”?

Wenn ein Weiterlaufen gewollt gewesen wäre, dann hätte man mit den Planungen spätestens 2018 beginnen müssen. 2022, als die Ampel zu regieren begann, war es längst zu spät. Es hätte Gesetzesänderungen, EU-Genehmigungen, Personal, nachgeholte periodische Sicherheitsüberprüfungen (übrigens die ersten nach dem 2012 beschlossenen Standard) und natürlich auch neues Brennmaterial benötigt. Bis 2021 schien das nicht nötig zu sein. Aber da reagierten ja auch noch die “Nicht-Ideologen”.

Und natürlich verfolgte uns das AKW-Thema auch im Rest des Jahres. Nachdem erst die unmittelbaren Folgen des Ausstieges falsch und überhöht dargestellt wurden (siehe nächstes Kapitel), wurde die Union nicht müde, immer wieder zu betonen, dass Kernkraft eine Option bleiben muss, mit Schlagwörtern Kernfusion, Generation 3 und 4 und SMR. Selbst im neuen Entwurf des Parteiprogramms findet sich Kernenergie wieder. Aber auch das entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Nebelkerze.

Ende des Jahres wurde der World Nuclear Industry Status Report 2023 veröffentlicht. Eine gute Zusammenfassung auf Deutsch gibt es hier, oder auch in dem Interview mit dem Herausgeber. Und beide Artikel sagen eigentlich, dass es völlig illusorisch ist, dass auf der Welt im großen Stil Atomkraftwerke gebaut werden. Selbst die in der westlichen Welt im Bau befindlichen Kraftwerke liegen Jahre hinter dem Zeitplan und die Kosten sind explodiert. Frankreich will 2024 seinen seit 2006 im Bau befindlichen Reaktor in Betrieb nehmen, hat in den letzten Jahren seinen Energiekonzern EDF wegen zu hoher Schulden verstaatlichen müssen; in UK wurde Hinkley Point nur dank Preisgarantien des Staates begonnen, und jetzt ist auch noch der chinesische Investor abgesprungen, was dem Bauherrn EDF noch mehr Finanzprobleme bereiten dürfte, und auch in den USA sind die Baukosten jetzt schon bei 44 Mrd Dollar, Ende nicht absehbar. Zitat aus dem Interview:

Die Politiker, die dieses Versprechen auf der COP28 abgegeben haben, fahren ja nicht nach Hause und bauen Atomkraftwerke. Dafür braucht es eine Industrie, aber man kann an einer Hand abzählen, welche Unternehmen in der Lage sind, Atomkraftwerke zu bauen. In den USA musste Westinghouse 2017 nach sehr schlechten Erfahrungen mit dem Bau von zwei Atomkraftwerken Insolvenz anmelden: Das Projekt V.C. Summer wurde aufgegeben. Beim Atomkraftwerk Vogtle haben sich die Bauzeiten verdoppelt, die Kosten sind explodiert. Ein Reaktor ist noch immer in Bau.
Beim französischen Pendant Framatome sieht es ähnlich aus. Die Mutter EDF hat 65 Milliarden Euro Nettoschulden angehäuft. Wer bleibt übrig? Die Koreaner, aber deren nationale Gesellschaft KEPCO hat sage und schreibe 149 Milliarden US-Dollar Schulden. Ich wusste nicht, dass man mit solch einem Schuldenberg überlebensfähig ist … Das sind doch keine Bedingungen, um in großem Maße Atomkraftwerke zu bauen.

Und da sollen Atomkraftwerke Teil der Lösung für die Energiewende in den nächsten 10–15 Jahren sein? Selbst wenn wir einen Betreiber finden sollten, staatliche Garantien dafür aussprechen und nach langen Protesten ein AKW gebaut werden sollte, geht das nicht vor 2045 in Betrieb. Bis dahin müssen wir allerdings schon fertig sein mit der Energiewende..

Wenn also keine herkömmlichen Kraftwerke, dann vielleicht die kleinen Small Modular Reactor (SMR), die wir dann im Land verteilen könnten? Eher nicht. Es gibt bislang nicht einen laufenden SMR auf der Welt. Einer der Hoffnungsträger war die Firma NuScale Power. Aber im November wurde das große Zukunftsprojekt, der erste SMR in Idaho, eingestellt, trotz Milliardenförderung durch die US-Regierung. Der Grund: Viel zu teuer und nicht konkurrenzfähig mit Erneuerbaren Energien. Die Aktie von Nuscale Power hat 75% an Wert verloren, wie ein Hoffnungsträger sieht das nicht aus.

Natürlich darf die Entwicklung weitergehen, und niemand hat etwas dagegen, wenn weiter an Kernfusion geforscht wird, aber Kernkraftwerke nach derzeitigem technischen Stand können preislich nicht mit Erneuerbaren Energien konkurrieren, und alles andere existiert derzeit nur in Powerpoint-Präsentationen. Handlungsleitend für heutige Entscheidungen können aber nur bestehende Technologien sein. Da kann man sich schon fragen: Wer sind hier eigentlich die Ideologen?

Kapitel 2: Energie-Populismus

Im Nachgang der AKW-Abschaltung veränderte sich natürlich die Stromerzeugung. Konkret haben wir dann erstmal etwas mehr importiert als zuvor — völlig logisch. Aber die “Energie-Experten” der Unionsparteien nutzten dies das ganze Jahr über, um mit faktenfreien Behauptungen Ängste und Unmut zu schüren. Mein Lieblingsausdruck des Jahres war “Strom-Bettler”, von der BILD-Zeitung geprägt, aber für Spahn und Co natürlich wieder ein prima Aufhänger zum Ampel-Bashing. Als ob nicht auch sie wüssten, dass wir einen europäischen Strom-Markt haben und dort ständig Strom über Ländergrenzen ausgetauscht wird. Und wenn sich die Experten schon über ein paar Prozent unseres Stromes aufregen, was ist dann mit den annähernd 100% Öl und Gas, die wir importieren? Sind wir dann Ölbettler? (Lesetipp zu den Strombettlern: Jan Hegenberg auf seinem Blog, mit vielen Zahlen, Daten, Fakten)

Quelle: energy-charts.info

Wenn man sich historische Daten anschaut, sieht man, dass wir z.B. auch im zweiten Quartal 2019 deutlich mehr Strom aus Frankreich importiert als exportiert haben. Polen spielt bei den Importen übrigens quasi keine Rolle, die bekamen deutlich mehr Strom von uns — gut für ihren Strom-Mix. Den meisten Strom haben wir von Dänemark importiert, teilweise als Transit von Schweden — zum größten Teil Windstrom. Und nein, wir importieren den Strom nicht, weil wir es müssen, sondern weil der importierte Strom billiger und sauberer ist als wenn wir ihn selber erzeugen würden. Wir haben selbst ohne Wind und PV eine Erzeugungskapazität von knapp 91GW. Selbst an den kältesten Tagen und ohne erneuerbare Energien könnten wir uns also immer noch selber versorgen. (Anders als Frankreich übrigens.) Der Strom wäre dann natürlich sehr CO2-reich und damit teuer, aber die Gefahr eines Blackouts oder einer Versorgungslücke besteht selbst rechnerisch nicht.

Apropos “dreckiger Strom”. Auch so eine Behauptung, die immer wieder von der BILD mit kruden Rechnungen aufgestellt wurde, und von Spahn, Huber und Co weiterverbreitet wurde. Garniert mit Sätzen wie “Wir importieren ja lieber Kohlestrom aus Polen…” oder “Die Grünen, die lieber wieder Kohlekraftwerke ans Netz bringen…” oder am Ende den “Kohle-Winter”. Die Wahrheit ist: Wir haben in 2023 so wenig Kohle verstromt wie zuletzt 1959. Und der Anteil der Erneuerbaren Energien in der Energieerzeugung betrug knapp 60%, ganze 10% mehr als im Jahr zuvor. Man könnte rufen: Danke, Habeck! Damit ist unserer Strom sauberer als er jemals war. Natürlich gibt es einzelne Stunden, in denen wir sehr viel Strom aus Kohle oder Gas im Netz haben, dafür aber auch welche, in denen wir mehr als 100% der nötigen Leistung mit Erneuerbaren Energien decken. Am 24.12. war das übrigens die vollen 24 Stunden der Fall.

Quelle: energy-charts.info auf X.com
Quelle: energy-charts.info

Im Grunde sind wir also auf einem guten Weg, auch wenn das 2023 oft anders klang. Ja, wir müssen noch schneller werden, vor allem beim Aufbau von Windrädern. Dafür wäre es natürlich hilfreich, wenn Markus Söder endlich 10H beerdigen würde. Und Landräte nicht Bauanträge “so lange wie möglich hinziehen [..] und eine Klage gegen sich ergehen lassen” würden sondern den Bürgern erklären, dass Windräder gut für sinkende Strompreise sind. Die Strompreise sind übrigens nach dem extremen Anstieg 2022 inzwischen wieder auf dem Niveau von Sommer 2021. Tendenz fallend.

Man könnte also von Politiker:innen der eigentlich seriösen Unionsparteien erwarten, dass sie nicht jeden Stuss, den die BILD von sich gibt, direkt weiter ventilieren, sondern irgendwann mal “das ist jetzt auch mir zu blöd” sagen. Aber wie man an Umfragen sieht, scheint das Malen von Untergangsszenarien und das Schüren von Ängsten aufgrund von Faktenverdrehen gerade das Mittel zu sein, mit dem sich die Bevölkerung am besten “bei Laune halten” lässt. Ich hoffe jedoch, dass diese Taktik auf lange Sicht nicht aufgeht.

Kapitel 3: Heizungs-Populismus

Quasi über das komplette erste Halbjahr begleitete uns die Diskussion über die Überarbeitung des Gebäudeenergiegesetzes (GEG), oder auch verkürzt “Heizungsgesetz” oder “Habecks-Heiz-Hammer” genannt. Moment, Überarbeitung? Ja. Auch dieses Gesetz hat eine Historie. Es gab schon ein 2020 von der Großen Koalition beschlossenes GEG, in welchem geregelt wurde, wie Energiestandards aussehen sollten, welche Art Heizungen erlaubt oder verboten wurden. Aber erinnert sich jemand im Jahr 2020 an Altmaiers Heiz-Hammer? Nein? Interessant, denn auch schon damals standen da so Dinge drin wie, dass Heizungen maximal 30 Jahre laufen dürfen, und auch, dass ab 2026 keine neuen Ölheizungen mehr eingebaut werden dürfen. (Quellen: Wikipedia, Originaltext)

Dieses Gesetz wurde nun überarbeitet. Und nicht nur die BILD hat eine Kampagne gegen das BMWK und Habeck persönlich gefahren, sondern auch die Union. Sehr gut rekonstruiert nachzulesen bei den Krautreportern, leider hinter Paywall. Wenn man den Erzählungen von Spahn, Söder oder auch Linnemann — aber auch FDP-Granden wie Christian Dürr oder Kubicki glauben wollte, wäre nach der Überarbeitung Habeck höchstpersönlich in die Häuser gekommen um bestehende Gasheizungen rauszureißen. Das Gesetz wurde als “Atombombe für unser Land” betitelt. Und Markus Söder warf regelmäßig mit der Zahl von 300.000€ für den Einbau einer Wärmepumpe um sich, ob im Bierzelt oder in Talkshows. Wie er darauf kam? Niemand weiß es. Aber die Kampagne tat was sie tun sollte: Verunsicherung und Ängste schüren — und das zum Großteil unbegründet. Inzwischen zeigen Studien, dass bis zu 90% der Bestandsgebäude auch mit Wärmepumpen beheizt werden könnten.

Die Überarbeitung des GEG war vor allem deshalb notwendig, weil Deutschland bis 2045 klimaneutral sein möchte, auch um die Zusagen vom Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Die Union und auch die FDP erzählten gern vor den Kameras, was sie alles nicht wollen. Bei der Frage, wie es denn sonst gehen solle, kamen aber keine tragfähigen Alternativkonzepte, wie denn das Ziel erreicht werden könnte. Schlagworte wie “Technologieoffenheit” oder Platzhaltersätze wie “Uns wird dann schon was einfallen.” waren die einzigen Antworten. In Talkshows wurden Nebelkerzen von Wasserstoff-Heizungen mit selbst erzeugten Strom vom Dach und H2-Tanks geworfen, oder H2-Heizungsnetze und H2-ready Heizungen. Dinge, die von Experten und unzähligen Studien regelmäßig als unrealistisch abgetan werden, auch z.B. Großbritannien nimmt Abstand vom Konzept Wasserstoffheizung (und empfiehlt stattdessen Wärmepumpen). Kein Konzept, aber hauptsache dagegen.

Was folgte aus diesen ganzen Kampagnen? Eine verunsicherte Bevölkerung. Menschen, die ohne triftigen Grund in neue Häuser Gasheizungen einbauen. Eine Wärmepumpenindustrie, die nach jahrelangem Wachstum plötzlich mit unerwarteten Absatzproblemen kämpft. Und Bürger:innen, die langfristig gesehen, jetzt falsche Entscheidungen treffen, weil Union und FDP nicht zugeben können, dass die Wärmepumpe in den meisten Fällen die beste Form einer neuen Heizung ist. So, liebe Politiker:innen von Union und FDP, schadet man dem Land. Denn die Zukunft für Öl- und Gas-Heizungen ist schon vorhersagbar. Bis 2026 wird Öl und Gas aufgrund von steigenden CO2-Abgaben (übrigens auch ein Pfad, den die letzte GroKo noch beschlossen hat) moderat teurer. Und 2027 werden auch fossile Brennstoffe für Heizungen und Fahrzeug-Treibstoffe in den europäischen Emissionshandel (ETS II) integriert. Diesen Preis kann man heute noch nicht voraussagen, aber sicher ist, je größer unser “Hunger” ist, umso höher wird aufgrund der Knappheit der Verschmutzungs-Zertifikate der Preis. Vermutlich werden wir eher Preise von über 100€ pro Tonne CO2 sehen, was Gas und Heizöl, aber auch Diesel oder Benzin spürbar teurer werden lassen dürfte.

Der Populismus von Union und FDP schadet also langfristig den Bürger:innen. Da kann man sich schon die Frage stellen: Wäre ein GEG wie ursprünglich geplant, mit entsprechend hohen Subventionen für die Umrüstung, nicht das bessere Mittel gewesen, um die Dekarbonisierung Deutschlands Gebäudebestandes voranzutreiben? So wird der Handlungsdruck für zukünftige Regierungen nur größer.

Ausblick und Hoffnung?

Wie geht es also 2024 weiter? Wenn man manchen Personen zuhört, steht unser Land kurz vor dem Untergang. Die Liste mit Populismus hätte ich noch ewig fortsetzen können, sei es über Geflüchtete, Menschen in Bürgergeld, Autos, oder ganz aktuell bei den Bauern. Dabei steht Deutschland nicht so schlecht da. Der DAX jagt von einem Rekord-Hoch zum nächsten, Deutschland ist auf Platz 3 der größten größten Volkswirtschaften geklettert, wir hatten noch nie so viele Menschen in Arbeit wie derzeit, es gab noch nie weniger Morde, der Mindestlohn hilft den Menschen im Niedriglohnsektor, trotz des Ausfalls russischer Gaslieferungen haben wir so wenig Kohle verfeuert wie 1959, die Energiewende kommt in Fahrt, die Börsenstrompreise sind niedriger als im Sommer 2021. Die Inflationsrate ist wieder deutlich gesunken, die Insolvenzen bewegen sich auf ähnlichem Niveau wie vor Corona. Dazu wurden die Renten in Ost und West angeglichen, Kindergeld erhöht. Und die Liste ist sicher unvollständig.

Populisten sind diese Fakten egal. Populisten fehlt es immer wieder an Ehrlichkeit, es werden einfache Lösungen propagiert, mit falschen Zahlen Wut geschürt, oder auch langfristig entstandene Probleme nur auf heute projiziert und einfach komplett “vergessen”, dass von den letzten 43 Jahren 32 Jahre lang die Union das Kanzleramt besetzte. Hauptsache, die Politiker:innen der Ampel (oder konkreter: DIE GRÜNEN!) sind an allem Schuld. Sei es an der desolaten Infrastruktur, an fehlenden Investitionen oder an nicht zukunftsfähigen Industrien und daraus folgender angeblicher Deindustrialisierung. Die Social Media Profile von Spahn, Huber, Aiwanger, Söder und Co sind schwer zu ertragen. Dazu noch alle paar Wochen ein “Fehltritt” von Merz, der den Diskurs wieder weiter verschiebt. Klingt nicht sonderlich hoffnungsvoll.

Und doch mag ich die Hoffnung nicht aufgeben. Eigentlich wünsche ich mir ähnliche Dinge wie letztes Jahr:

Fakten und Daten als Diskussionsgrundlage

Ich möchte, dass wir anhand von Fakten, Daten und Wissenschaft diskutieren. Dass wir aufhören, Zahlen zu verdrehen, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse (bzw. Mehrheitsmeinungen) als “Aktivismus” zu framen und einfach (wie z.B. beim Stand der Atomkraft) auch mal die Größe haben zu sagen “das sieht nicht so aus, als ob uns das jetzt helfen könnte, haken wir es ab”.

“Auch Tatsachen würden mich nicht von meiner Meinung abbringen.” — Demo-Teilnehmer in Radeberg
Zitat aus einer Lokalzeitung

Die Leitplanken von BVerfG und Gesetzen/Abkommen

Das Jahr endete mit einem Paukenschlag vom Bundesverfassungsgericht, dem nicht verfassungskonformen Haushalt. Der Triumph der Union darüber war schwer auszuhalten, führt er doch zu weiteren Grabenkämpfen und Unzufriedenheit. Und ich wünsche mir, dass wir nicht nur einzelne — der eigenen politischen Agenda in den Kram passende — Urteile beachtet werden, sondern alle. Und da gehört auch das Urteil von 2021, das besagt, dass wir nicht weiter so leben dürfen, dass die kommenden Generationen erhebliche Einschränkungen haben werden. Oder auch das Urteil zum Existenzminimum, an dem sich das Bürgergeld orientiert. Und auch an bestehende Gesetze sollte sich die politische Diskussion halten. Vor allem die Klimaneutralität bis 2045 oder auch das Pariser Klimaabkommen muss dann in jeder Entscheidungsfindung mitbedacht werden. Auch wenn es unbequem ist. Wir müssen uns immer fragen: Zahlt dieses Gesetz bzw. diese Verordnung auf das Langzeit-Ziel ein? Es ist schon interessant, dass ausgerechnet die Parteien, denen “Recht und Ordnung” immer besonders wichtig ist, an dieser Stelle gern mal mehr als ein Auge zudrücken. Generationengerechtigkeit ist aber nicht nur, dass der Staat nicht zu viele monetäre Schulden hat, sondern auch, dass wir intakte Infrastruktur und generell eine Welt zum Leben hinterlassen.

Die Welt ist komplex. Und so sind auch die Lösungen.

Ich möchte deshalb, dass wir aufhören, den Menschen leichte Lösungen zu versprechen. Wir leben in einer Welt von multiplen Krisen. Es toben mehrere Kriege, die teils unsere westliche Welt bedrohen. Die Klimakrise sorgt dafür, dass Bauern innerhalb von Minuten die komplette Ernte eines Jahres verlieren, das Leben am Broadway aufgrund von Feuerqualm aus Kanada zum Erliegen kommt, oder man sich im Sommerurlaub entscheiden kann, ob man es bei 45 Grad kaum draußen aushält, vor dem Waldbrand aus dem Hotel fliehen muss oder Regenfälle mit tennisballgroßen Hagelkörnern das Auto zerbeulen. Und die multipolare Welt bringt die Wirtschaft ins Wanken. All diese Probleme erfordern Lösungen. Und wer den Menschen vorgaukelt, es könne alles so weiter gehen wie bisher (oder noch schlimmer mit Ansätzen aus den 90er Jahren gelöst werden), lügt. Wir werden Wandel brauchen, und der wird jeden von uns betreffen. Und Technologie wird nicht alles für uns regeln können. Hier sind alle demokratischen Kräfte gefordert.

Quelle: Tagesschau X.com

Dass die AfD erfolgreich die große Verunsicherung ob des Berges von Problemen für sich zu nutzen weiß, sehen wir in jeder Umfrage. Die Ampel versucht, die Krisen irgendwie zu meistern (und das wirklich nicht gut), muss aber neben den inhaltlichen Problemen auch noch das Störfeuer an Scheinlösungen aus der Union bekämpfen. Ich wünsche mir, dass auch die Union sich ehrlich macht und den Menschen sagt, dass sich Dinge für sie verändern werden müssen. Ich wünsche mir, dass alle demokratischen Parteien gemeinsam die notwendige Transformation gestalten wollen und Menschen die Angst vor der Veränderung nehmen und Mut machen mitzukommen. Und dazu gehört auch, dass die Union aufhört, DIE GRÜNEN! als Hauptfeind zu benennen sondern sich mit der Ampel gemeinsam dem Hauptfeind entgegenstellt: den Extremen. Denn ich bin überzeugt, dass der rechte Rand nur dann geschwächt werden kann, wenn alle demokratischen Kräfte zumindest in die gleiche Richtung laufen. Für Differenzierung und Profil bleibt da trotzdem noch Platz.

Mehr positive Geschichten erzählen

Es gäbe viele Möglichkeiten, den Bürger:innen mit positiven Geschichten Lust auf Veränderung zu machen. Dass die neuen Windräder am Ortsrand dafür sorgen, den Marktplatz sanieren zu können, oder sich die Gemeinde auch weiterhin ein Freibad leisten kann. Dass wir mit neuen Heizungen und E-Autos leisere, lebenswertere Städte erhalten und sauberere Luft atmen werden, die Anzahl der Atemwegserkrankungen zurückgehen könnten. Dass autofreie Innenstädte auch mal zum Bummeln oder Eis essen einladen, weil man nicht immer den Gestank und den Autolärm ertragen muss. Wir sind so gefangen in dem Status Quo, dass wir die Unzulänglichkeiten der Gegenwart als “normal” wahrnehmen, und uns die Verbesserungen oft nicht mal vorstellen können. Und wenn schon Veränderung, dann so, dass sich für mich nichts ändert und alles direkt perfekt ist. Zwischenschritte sind nicht erlaubt.

Quelle: Katja Berlin, Internetfund auf Social Media

Ja, wir leben in einer herausfordernden Zeit, in der so viele Probleme gleichzeitig gemeistert werden wollen. Aber die Aussicht auf das “danach” könnte doch Hoffnung geben. Wenn meine Küche saniert wird, während ich in der Wohnung lebe, habe ich auch einige Wochen jeden Tag Dreck bis in den hintersten Winkel, und die Verpflegung ist für eine Zeit etwas umständlicher. Aber dafür bekomme ich danach mehr Lebensqualität und eine moderne Umgebung, in der Kochen Spaß macht. Genau so sehe ich die aktuelle Zeit auch. Nur dass wir halt nicht von ein paar Wochen sondern eher von Jahren (oder Jahrzehnten) reden.

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Sebastian Damm

politisch interessierter ITler, Ehemann, mit dem Hund im bayrischen Wald unterwegs